"Tut mir leid, ich musste dringend einkaufen", entschuldigte sich Tante Mel. Lena hörte, wie der Einkaufskorb beim Abstellen auf der Tischplatte leise quietschte. Dann ließ Tante Mel ihn los, und er wurde sichtbar. "Zutaten für Mohnkuchen. Ich habe Oma Hilde versprochen, mal wieder zu backen."
"Einkaufen?", sagte Lena. "Wie kauft man denn ein, wenn man unsichtbar ist?"
"Na ja ..." Tante Mels Stimme klang ein bisschen verlegen. "Man berührt etwas, und es wird unsichtbar, und dann legt man es in seinen unsichtbaren Korb."
"Das nennt man Klauen!", rief Lena vorwurfsvoll.
"Im Prinzip schon, aber ich kann doch nicht zur Kasse gehen und sagen: 'Guten Tag, ich bin unsichtbar und möchte diese unsichtbare Packung Mehl bezahlen!' Da würde die Kassiererin ja denken, sie sei verrückt geworden - das wäre viel schlimmer!"
"Stimmt", sagte Lena. Sie schaute zu, wie Tante Mel den Kuchenteig vorbereitete, was sehr seltsam aussah, weil all die Dinge, die sie aus Oma Hildes altem Küchenschrank holte, erst verschwanden und dann an einer anderen Stelle in der Küche wieder auftauchten.
Während sie zusammen den Teig anrührten, erzählte Tante Mel davon, wie es so war, unsichtbar zu sein. Dass sie überall sein konnte, ohne bemerkt zu werden, dass sie manchmal Gespräche hörte, die sonst niemand hörte, und Dinge sah, die anderen verborgen blieben.
"Toll", sagte Lena. "Dann könntest du jetzt ja Detektivin werden!"
Tante Mel ließ scheppernd den Schneebesen in die Schüssel fallen. "Ja!", sagte sie. "Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Tolle Idee!"
"Dann könntest du rausfinden, wo Papa wohnt." Seit der Beerdigung hatte Lena jeden Tag nach dem Unterricht eine halbe Stunde vor dem Schultor auf Piet gewartet, aber er war nicht gekommen.
"Seltsam", sagte Tante Mel, als Lena es erzählte. "Das wird mein erster Fall. Hast du auf dem Brief nachgesehen? Da müsste doch seine Adresse draufstehen."
Lena hatte vollkommen vergessen, auf den Absender zu gucken! Der Brief lag in ihrem Zimmer griffbereit in der obersten Schublade des Nachttischs, damit sie ihn jeden Abend vor dem Schlafengehen zweimal durchlesen konnte.
Während Tante Mel den Ofen vorheizte und den Mohnkuchenteig in der Form verteilte, holte Lena Papas Briefumschlag. Aber dort stand keine Adresse, sondern nur: Von Papa.
"Ach, Tante Mel, ich vermisse ihn so schrecklich", sagte Lena. "Ich möchte ihn endlich wiedersehen!"
"Ich weiß, Schatz, und das wirst du auch ... Huch verflixt!" Anscheinend war Mel die Schachtel mit dem Puderzucker aus der Hand gerutscht, denn Lena hörte, wie sie zu
Boden fiel.
Und dann geschah ein Wunder: Genau in dem Moment, als die Schachtel sichtbar wurde, sah Lena, wie eine staubige Puderzuckerwolke aus der Öffnung nach oben schoss, bis hoch unter die Decke - wie bei einem Vulkan, der Asche spuckte. Und als der Puderzucker oben in der Luft war, begann er zu flimmern wie feinste Schneekristalle und sank langsam, ganz langsam wieder zu Boden. Allerdings nicht der ganze Puderzuckerstaub. Manche der feinen Körnchen blieben, wie von einer unsichtbaren Kraft gehalten, mitten in der Luft hängen, immer mehr und mehr, bis Lena plötzlich glaubte, die weißen Umrisse einer Person zu erkennen. Einer Person, die ihr irgendwie bekannt vorkam ...
"Tante Mel!", schrie Lena.
"Was ist?"
"Ich kann dich sehen!"
Tante Mel stand vor ihr, mit Oma Hildes Küchenschürze, ein bisschen puderzuckerblass zwar, aber sonst genau so, wie Lena sie in Erinnerung hatte.
"Faszinierend", sagte Tante Mel und betrachtete ihre Hand. "Dieser Puderzucker ist so leicht, dass er an mir hängen bleibt ... Hallo, mein Schatz!"