In einem ganz normalen Königreich mit Pferden, Drachen, Schlössern und Supermärkten lebte eine Prinzessin. Allerdings lebte sie in einem halben Schloss, was auch in Märchenländern ungewöhnlich ist. Als hätte ein Riese das ganze Gebäude mit seinem Beil, zack, einmal in der Mitte durchgehackt, so sah das Schloss aus. Von vorne ganz normal. Aber wenn man um das Schloss herumging,
waren hinten alle Zimmer offen und der Wind wehte
herein. Sogar manche Möbel und Gegenstände waren durchgeschnitten. Das Klo war zum Glück heil geblieben, aber bei der Badewanne fehlte ein Stück vom vorderen Teil, deswegen lief beim Baden immer das Wasser aus. Bei der Waschmaschine fehlte der hintere Teil, deswegen flog die Wäsche beim Schleudern immer aus der Trommel und landete irgendwo in den Bäumen. Auch die Krone, die der König auf dem Kopf trug, war nur halb und fiel deswegen dauernd herunter!
"Wo ist denn die andere Hälfte?", fragte die Prinzessin.
"Weg", sagte ihr Vater. "Als du klein warst, hat deine Mutter das ganze Schloss in der Mitte durchgesägt und eine Hälfte mitgenommen. Und meine halbe Krone auch."
"Ich wusste ja gar nicht, dass man Schlösser durchsägen kann", wunderte sich die Prinzessin.
"Hexen können so was", erwiderte der König grimmig. "Und deine Mutter ist eine." Und dann erzählte er, dass die Hexe auch den Prinzen mitgenommen hatte, der damals noch ein Baby gewesen war. Irgendwohin, wo niemand sie finden konnte.
"Ich wusste ja gar nicht, dass ich einen Bruder habe!"
In dieser Nacht konnte die Prinzessin vor lauter Aufregung nicht schlafen. Und als die Sonne aufging, packte sie ihren rosaroten Rucksack und schlich sich aus dem Schloss, um ihren Bruder zu suchen.

(aus: "Die Prinzessin, die ihren Bruder suchen ging" von Salah Naoura)